Das Märchen von der Inklusion – es könnte Wirklichkeit werden

Erstellt von Julia Walter | |   Mobilität

Artikel von Andreas Reigbert, Mitglied im BSK-Fachteam Mobilität

2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) unterschrieben. Am 21. Januar 2019 wurde in der ARD anlässlich des zehnten Jahres nach Inkrafttreten der UN-BRK in Deutschland der Radio-Bremen-Film für "Die Story im Ersten" mit dem Titel „Das Märchen von der Inklusion - Eine Bilanz nach 10 Jahren“ ausgestrahlt (Das Märchen von der Inklusion - Eine Bilanz nach 10 Jahren).

Der Titel sagt schon fast alles oder jedenfalls sehr viel. Nämlich, dass wir auch nach zehn Jahren UN-BRK in Deutschland immer noch weit entfernt sind von wirklicher, gelebter Inklusion. Die Inklusion existiert in manchen Gesetzen und Verordnungen und in den Sonntagsreden von Politiker*innen, aber noch viel zu wenig in der Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen. Daher der Titel – Inklusion ist für die meisten Menschen bisher nur ein schönes Märchen, etwas, von dem wir Menschen mit Behinderungen träumen, das es aber nicht wirklich gibt.

Betroffen sind alle Bereiche – von der Schule über den Arbeitsmarkt bis zum ÖPNV
Die sehr sehenswerte Dokumentationssendung schildert das sehr eindringlich, vor allem an Beispielen aus den Bereichen Bildung, Schule und Arbeitswelt. Es ist richtig und wichtig, dass Inklusion bei den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft, bei den Kindern und Jugendlichen, beginnen muss.

Genauso wichtig ist aber auch die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt. Ich habe 22 Jahre für die Bundesagentur für Arbeit (BA) gearbeitet. Dort sind schwerbehinderte Menschen seit jeher eine besondere – weil benachteiligte – „Zielgruppe“. Die Arbeitslosenquoten von schwerbehinderten Arbeitslosen und Arbeitsuchenden waren stets höher als die anderer Gruppen. Die BA-Mitarbeiter*innen bemühen sich nach Kräften, die Mitglieder dieser „Zielgruppe“ in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Hinsichtlich der Beschäftigung Schwerbehinderter müssen die Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten in Deutschland eine Pflichtquote von 5% erfüllen. Das heißt, dass ein Arbeitgeber auf 5% seiner Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen beschäftigen muss. Schwerbehinderte Frauen sind dabei besonders zu berücksichtigen. Arbeitgeber mit bis zu 39 Arbeitsplätzen müssen zumindest einen, Arbeitgeber mit bis zu 59 Arbeitsplätzen mindestens zwei Schwerbehinderte beschäftigen. Die genannten Zahlen gelten jeweils jahresdurchschnittlich je Monat. Die Erfüllung der Pflichtquote befreit den Arbeitgeber aber nicht von seiner zusätzlichen Pflicht, bei der Besetzung frei werdender Stellen zunächst zu prüfen, ob ein*e Schwerbehinderte*r eingestellt werden kann.

Den BA-Mitarbeiter*innen sind bei ihrer Vermittlungstätigkeit jedoch die Hände gebunden, wenn viele Arbeitgeber keine Menschen mit Behinderungen einstellen wollen und sich stattdessen lieber „freikaufen“, indem sie die – viel zu niedrige – „Ausgleichsabgabe“ zahlen. Die Ausgleichsabgabe beträgt je Monat und unbesetztem Pflichtarbeitsplatz zwischen 125 und 320 Euro – lächerlich wenig! Arbeitgeber mit weniger als 40 Arbeitsplätzen müssen einen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, andernfalls zahlen sie je Monat 125 €. Arbeitgeber mit weniger als 60 Arbeitsplätzen müssen zwei Pflichtarbeitsplätze besetzen; sie zahlen 125 €, wenn sie nur einen Pflichtarbeitsplatz besetzen, und 220 €, wenn sie keinen bzw. weniger als einen schwerbehinderten Menschen beschäftigen.

Meiner Meinung nach müsste die Ausgleichsabgabe zehnmal so hoch sein wie jetzt, um volle Wirkung zu entfalten. Eine höhere Abgabe lehnen Politik und Wirtschaft aber rigoros ab. Und die BA-Mitarbeiter*innen können auch nicht viel mehr tun, wenn der Gesetzgeber als arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium für diese „Zielgruppe“ lediglich Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke sowie Werkstätten für Menschen mit Behinderungen anzubieten hat. Ganze 67 Euro „Taschengeld“ im Monat erhält der in der erwähnten Dokumentation portraitierte 18-jährige, geistig behinderte Lukas dort, der eigentlich lieber Lokführer werden wollte, es aber nicht durfte. Das ist Ausbeutung pur. Selbstbestimmt leben kann er davon nicht.

An dieser Stelle ist viel mehr Kreativität des Gesetzgebers und der zuständigen Ministerien, in erster Linie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), gefragt. Inklusion geht jedoch weit darüber hinaus. Inklusion hat unter anderem auch sehr viel mit Barrierefreiheit zu tun. Barrieren diskriminieren Menschen mit Behinderungen, weil sie sie vom gleichberechtigten Leben in der Gemeinschaft ausschließen. Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen ist in Deutschland auch zehn Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK durch die Bundesregierung allgegenwärtig. Bei der mangelnden Barrierefreiheit im öffentlichen Personennah- und -fernverkehr, im öffentlichen Raum, bei nicht barrierefreien öffentlichen und privaten Gebäuden, Arztpraxen, Bahnhöfen, Freibädern, Geschäften, Hotels, Restaurants, Kinos, Theatern, Wohnungen – die Liste ist unendlich lang – ist Diskriminierung in Deutschland für Menschen mit Behinderungen täglich zu spüren.

Warum schafft die Deutsche Bahn es zum Beispiel nicht zeitnah, ihre alten Bahnhöfe barrierefrei umzubauen? „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, lautet ein altes Sprichwort. Fehlt bei der Deutschen Bahn und in unserer Gesellschaft der Wille zur Inklusion und zur vollständigen Barrierefreiheit? Die DB Station & Service AG betreibt in Deutschland rund 5.400 Bahnhöfe. Der barrierefreie Ausbau der Bahnsteige und deren Zugänge ist laut eigener Aussage der Deutschen Bahn eine sehr wichtige Aufgabe. Der Bund und die Länder unterstützen die Deutsche Bahn dabei mit erheblichen Fördersummen. Jedes Jahr werden 100 Stationen barrierefrei ausgebaut. Aber bisher verfügt erst etwas mehr als die Hälfte der bestehenden Bahnsteige über eine Bahnsteighöhe, die beim Einsatz passender Fahrzeuge einen niveaugleichen Einstieg erlaubt. Da demnach erst rund die Hälfte der Deutschen Bahnsteige barrierefrei ist, wird es also noch rund 25 Jahre dauern, bis auch der letzte Bahnhof in Deutschland barrierefrei ist. Dieses Schneckentempo halte ich für einen gesellschaftspolitischen Skandal und einen eklatanten Verstoß gegen die Artikel 9 und 20 der UN-BRK sowie gegen Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) und gegen § 4 Behindertengleichstellungsesetz (BGG). Ganz abgesehen davon, dass Barrierefreiheit allen nützt, zum Beispiel auch Eltern mit Kinderwagen, Senior*innen und Reisenden mit schwerem Gepäck.

Viele gute, lobenswerte Ansätze, viele Aktivistinnen und Aktivisten
Ich kenne Menschen, die schon seit mehreren Jahrzehnten gegen die oben genannten Missstände ankämpfen. Ich habe riesengroßen Respekt für alle diese Menschen und Organisationen, für die Behinderten- und Sozialverbände, für die vielen bekannten und weniger bekannten Behindertenrechtsaktivist*innen, die sich seit Jahren, teilweise seit Jahrzehnten, für die Rechte von Menschen mit Behinderungen engagieren.

Es gibt bekannte Gallionsfiguren dieser Bewegung, wie zum Beispiel Dr. Sigrid Arnade, Raul Krauthausen und Ottmar Miles-Paul. Es gibt aber auch viele andere, weniger prominente „Inklusionsbotschafter*innen“, die sich vor Ort, in ihren Städten und Gemeinden, tagein, tagaus für Menschen mit Behinderungen engagieren. Da geht es manchmal „nur“ um nicht abgesenkte Bordsteine, fehlende öffentliche Toiletten für Menschen mit Behinderungen oder um ein nicht barrierefreies Freibad. Aber alle diese Dinge sind gleichermaßen wichtig, denn sie entscheiden darüber, ob jemand mit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung am öffentlichen Leben und an der Gemeinschaft teilhaben und teilnehmen kann oder nicht.

Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von „offiziellen“ Bundes-, Landes-, Kreis- und städtischen Behindertenbeauftragten, die ebenfalls nach bestem Wissen und Gewissen unermüdlich für eine Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen arbeiten. Sie tun das zum Teil hauptamtlich (wie der Bundesbeauftragte und die Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung), zum Teil aber auch neben- oder ehrenamtlich. Dafür gebührt diesen Menschen großer Respekt, Dank und Anerkennung. Das Problem: Sie sind teilweise weder mit den notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet noch – und das ist das größte Problem – mit direkten und unmittelbaren Weisungsbefugnissen gegenüber den Ministerien und nachgeordneten Behörden.

Daher bleibt allen diesen engagierten Menschen und Institutionen nicht viel mehr, als ständig auf Diskriminierungen und Missstände hinzuweisen und immer wieder an den guten Willen und die Einsichtsfähigkeit von Politiker*innen, Ministerien, Behörden und Unternehmen wie der Deutschen Bahn zu appellieren. Und das ist seit Jahrzehnten ein Kampf gegen Windmühlenflügel und ein Fass ohne Boden. Denn es gibt bisher kaum geeignete Rechtswege und -mittel, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen juristisch durchzusetzen.

Die Gegner der Inklusion streuen immer wieder neuen Sand ins Getriebe. Ein jüngeres Beispiel dafür war die äußerst kurzfristige Ankündigung der Deutschen Bahn, ohne jegliche Vorankündigung, quasi von einem Tag auf den anderen, dass ihre Mobilitätsservice-Zentrale (MSZ) ab 1.1.2019 keine Hilfestellungen und Services mehr erbringen würde auf Strecken und Bahnhöfen, die von privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) betrieben werden. Ein wahrer Shit-Storm der Entrüstung sämtlicher Behinderten- und Sozialverbände, des Deutschen Behindertenrats (DBR) und zahlreicher Einzelpersonen konnte die DB am Ende zum Einlenken bewegen.

Ich selbst kämpfe seit dem Jahr 2015 für einen barrierefreien Umbau des mittlerweile 154 Jahre alten Bahnhofs an meinem Wohnort Bargteheide (Schleswig-Holstein) – bisher vergeblich. Unzählige Briefe an die Deutsche Bahn und den „Aufgabenträger“ NAH.SH, an den Bürgermeister und sämtliche politischen Parteien vor Ort, an den Landes- und den Bundesverkehrsminister, an die Bundes- und Landesbehindertenbeauftragten haben nichts genützt. Alle, sogar der Vorstandsvorsitzende der DB Station & Service AG, haben mir mit Bedauern beigepflichtet, dass „die Situation am Bahnhof Bargteheide für mobilitätseingeschränkte Reisende unbefriedigend“ sei. Aber die Deutsche Bahn wolle zurzeit in Bargteheide „aus wirtschaftlichen Erwägungen keine weitgehenden Investitionen“ vornehmen, weil voraussichtlich in den Jahren 2024 - 2027 eine neue S-Bahn-Linie (S4) von Hamburg nach Schleswig-Holstein gebaut wird. In diesem Zusammenhang werde der Bahnhof in Bargteheide ohnehin neu geplant und umgebaut. Bis dahin möge ich mich noch gedulden. Durchsetzen konnte ich mein Recht auf Barrierefreiheit und Inklusion jedenfalls nicht. Konzerne wie die Deutsche Bahn entscheiden nach streng betriebswirtschaftlichen Grundsätzen und Erwägungen, quasi nach Gutsherrenart im Stil des deutschen Obrigkeitsstaates des 19. Jahrhunderts.

Für Inklusion ist da kein Platz und – angeblich – kein Geld. Geld ist jedoch zur Genüge vorhanden. Was dagegen tatsächlich in unserer Gesellschaft fehlt, nicht nur bei der Deutschen Bahn, sind ein gehöriges Maß an Empathie, eine humane Ethik und eine gesunde Moral in den Wertvorstellungen. Weil und solange das alles fehlt, brauchen wir neue Gesetze und andere Strukturen.

Gesetze, die dringend einer Überarbeitung bedürfen
Seit Ratifizierung der UN-BRK sind in Deutschland auf Bundesebene mehrere Gesetze in Kraft getreten und/oder novelliert worden, unter anderem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und das Bundesteilhabegesetz (BTHG). Es ist damit ein Flickenteppich unterschiedlicher Gesetze entstanden. Diese Gesetze sind inhaltlich überwiegend schlecht gemacht und werden seit vielen Jahren von den Behinderten- und Sozialverbänden kritisiert. Aber passiert ist bisher sehr wenig. Bei der Verabschiedung des BTHG ist es sogar zu Verschlechterungen für Menschen mit Behinderungen gekommen. Da hat es auch nichts genützt, dass sich zahlreiche Menschen aus Protest am Spreeufer in Berlin angekettet haben.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Landesgesetzen und Verordnungen. Ein Beispiel sind die Landesbauordnungen (LBO) der Bundesländer. Diese sehen zwar barrierefreies Bauen in unterschiedlichem Ausmaß vor. Aber sie sind nicht einheitlich und zum großen Teil unzulänglich. „Barrierefrei“ bedeutet beim Wohnungsbau noch lange nicht rollstuhlgeeignet. Da ist doch die Frage, wie Gesetze und Verordnungen entstehen, wer sie schreibt und mit welcher Intention und welchem Sachverstand. Eines ist klar: Es sind nicht die Minister*innen selbst, die die jeweiligen Gesetze und Verordnungen schreiben. Dafür haben sie weder die Zeit noch die erforderliche Sachkenntnis. Das tun die ihnen unterstellten Beamt*innen und Mitarbeiter*innen auf der so genannten „Arbeitsebene“.

Nicht umsonst spricht man bei Gesetzentwürfen meistens auch von „Referentenentwürfen“. Doch dazu später mehr.

Die Rolle der Medien: Gezielte Desinformation, Naivität oder Unwissenheit? 
Oft frage ich mich, wie und mit welchen Prioritäten Nachrichten von den Chefredakteur*innen der großen „Mainstream-Medien“ ausgewählt werden. Einerseits wird manchmal tage- oder wochenlang über viel Belangloses oder über Personalien berichtet, wie zum Beispiel die Frage, wer nächste*r EU-Kommissionspräsident*in werden soll. Während gleichzeitig beharrlich über die Hintergründe und Details eines wichtigen – weil (Klima-) politisch sehr umstrittenen – Handelsabkommens zwischen der EU und dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur geschwiegen wird (Artikel hier einsehbar).

Überhaupt sehe ich hier gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Medienberichterstattung über die Klimazerrüttung und der über Inklusion und die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Auf den ersten Blick sind es zwei völlig unterschiedliche Politikfelder. Bei genauer Betrachtungsweise liegen aber ähnliche Mechanismen zugrunde: Entweder es wird gar nicht berichtet oder völlig unzureichend und/oder teilweise schlecht recherchiert. Die Lokalzeitungen sind da manchmal besser als die großen überregionalen Medien in Deutschland. Letztere könnten sich ein Beispiel nehmen an der britischen Tageszeitung The Guardian. Der Guardian berichtet häufig wesentlich detaillierter und kenntnisreicher als die meisten deutschen Medien, nicht nur über die Klimazerrüttung, sondern auch über Menschen mit Behinderungen und deren Probleme, siehe die „Disability Diaries“ des Guardian (https://www.theguardian.com/inequality/series/disability-diaries). Das ist auch dringend nötig, denn das Klima und die Menschen mit Behinderungen haben keine finanzstarke und im politischen Betrieb gut vernetzte Lobby, so wie zum Beispiel die pharmazeutische oder die Automobilindustrie, die ihren Interessen bei der Bundesregierung und in den Medien Gehör verschaffen können.

Erforderlich: Ein grundlegend neuer Ansatz, neue Institutionen und neue Rechtswege
Was wir brauchen, sind ganz andere, völlig neue staatliche und institutionelle Strukturen sowie neue Rechtswege. Es ist gut, dass es die oben genannten Gesetze und Verordnungen gibt. Aber sie sind reformbedürftig. Und das geltende Recht muss von den Betroffenen auch durchsetzbar sein. Wo werden also die Gesetzentwürfe geschrieben und wer wacht über die Einhaltung der Gesetze?

Im dem oben bereits erwähnten Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gibt es eine kleine Unterabteilung Va (und das Referat Vb3 der Unterabteilung Vb), die für Gesetzesvorhaben in diesem Politikfeld zuständig sind. Was wir brauchen, ist aber keine kleine Unterabteilung, die, aus welchen Gründen auch immer, inhaltlich und handwerklich schlecht gemachte Gesetze produziert. Was wir brauchen, ist ein Bundesministerium für Inklusion und die Rechte von Menschen mit Behinderungen! Das müsste selbst inklusiv, das heißt mit behinderten und nicht-behinderten Fachleuten besetzt sein, die nicht nur ihr (juristisches und sozialwissenschaftliches) Handwerkszeug beherrschen, sondern die Lebensumstände von Menschen mit Behinderungen aus eigener Anschauung oder eigenem Erleben kennen.

Dabei sollten auch Praktiker von der BA, aus den Gewerkschaften, den Behinderten- und Sozialverbänden oder anderen Initiativen mitarbeiten. Die Leitung müssten ein*e Minister*in und Staatssekretär*innen übernehmen, die sich bereits in der Vergangenheit durch Engagement und Sachverstand für diese Themen ausgezeichnet haben. Damit wäre nicht nur ein größeres Gewicht innerhalb der Bundesregierung gewährleistet, sondern auch eine qualitativ und quantitativ bessere Personalausstattung auf der Leitungsebene und der Arbeitsebene.

Und, last but not least, würde das Thema damit auch in der Öffentlichkeit und in den Medien mehr Aufmerksamkeit erhalten. Dieses neue Bundesministerium könnte eventuell erweitert werden um weitere Politikfelder und Themengebiete, die sich mit anderen Minderheiten beschäftigen, wie zum Beispiel geflüchteten Menschen, religiösen Minderheiten oder Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen. Jetzt werden mir manche Zeitgenoss*innen wahrscheinlich Naivität vorwerfen und dass das erst recht ein Märchen und eine Illusion sei. Aber wie hieß es in den 1970ern so schön? „Wer keinen Mut hat zu träumen, der hat auch keine Kraft zu kämpfen!“ Ich bin mir bewusst, dass das mit der jetzigen Bundesregierung nicht durchsetzbar ist. Aber ich gehe davon aus, dass wir vor dem Hintergrund der Herausforderungen der Klimazerrüttung, der Digitalisierung und des demografischen und technologischen Wandels in den nächsten Jahren vor gravierenden, rasanten politischen Entwicklungen und Umbrüchen in der politischen (Parteien-) Landschaft stehen.

Die Fridays for Future-Bewegung, das Rezo-Video und die Ergebnisse der Wahl zum Europäischen Parlament haben uns erst einen kleinen Vorgeschmack darauf gegeben. Egal, welche politischen Parteien und Gruppierungen sich bei der nächsten Bundestagswahl durchsetzen werden – an den oben genannten Themen kommt niemand mehr vorbei. Und wenn es kurzfristig noch kein Bundesministerium für Inklusion und die Rechte von Menschen mit Behinderungen geben wird, dann könnte man vielleicht mit einem Bundesamt oder einer Bundesagentur (mit regionalen und lokalen Dienststellen) beginnen.

Diese werden im späteren Verlauf ohnehin benötigt, um über die Einhaltung der einschlägigen Gesetze zu wachen. Außerdem müssen neue Rechtswege eröffnet und gegebenenfalls sogar eine neue Gerichtsbarkeit geschaffen werden, damit die betroffenen Menschen ihre Rechte auch einklagen können. Denn auf der Basis von Freiwilligkeit hat es bisher nicht funktioniert, weder bei der Höhe der Ausgleichsabgabe oder der Erfüllung der Schwerbehindertenquote in Unternehmen noch bei der Barrierefreiheit der Deutschen Bahn oder den Busunternehmen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Gut fürs Klima und gut für die Inklusion: Anthropozentrismus überwinden
Die zum Teil herablassende, arrogante oder ignorante Haltung mancher Politiker*innen und Unternehmen gegenüber Menschen mit Behinderungen und anderen Minderheiten ist meines Erachtens eine Sonder- oder Unterform des Anthropozentrismus, den – bezogen auf die Themen Klimazerrüttung, Artensterben, Verschmutzung (der Erde und der Meere), Überbevölkerung und Überkonsum – Fred Hageneder in seinem Buch Happy Planet (https://happy-planet.net/buch/) und der begleitenden Artikelserie auf spirit-online.de beschreibt.

Hageneder definiert Anthropozentrismus so: „Den Menschen als den sinngebenden Mittelpunkt von allem zu sehen (Anthropozentrismus, von anthropos = Mensch) ist die größte und fatalste geistige Verirrung unserer Spezies. Faschismus, Kolonialismus, Rassismus (white supremacy = “Überlegenheit der Weißen”), Chauvinismus usw. stellen zwar riesige gesellschaftliche Probleme dar, aber es sind wenig überraschende Ausgeburten – ja, natürliche Begleiterscheinungen – jeder Gesellschaft, die im Kern anthropozentrisch ist.“ Hier würde ich auch die diskriminierenden Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Behinderungen einordnen.

Neben der Schaffung neuer staatlicher Strukturen, Gesetze und Rechtswege geht es daher auch und vor allem um die Überwindung des Anthropozentrismus in der Gesellschaft, damit Inklusion auf allen Ebenen gelingen kann und das „Märchen von der Inklusion“ endlich Wirklichkeit wird.

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Bild zeigt Andreas Reigbert, Mitglied im BSK-Fachteam Mobilität
Der Autor: Andreas Reigbert, Mitglied im BSK-Fachteam Mobilität